Zur Lage (Reiner Geye und das Nummernschild)
Gestern fand in Köln ein Fußballspiel statt.
Ihr kennt das. Es gibt so Erlebnisse, gerade im Zusammenhang mit unserem geliebten Sport, die vergisst man nicht. Mir fällt da spontan der 12.11.1977 ein. Das war so ein Tag.
Was war passiert?
Bis zu diesem Tag besaßen wir einen VW Käfer aus den 60ern.
Genau am 12.11. gab es sich, dass ein Cousin meines Vaters, der Geschäftsführer eines Autohauses war, uns einen niegelnagelneuen Kadett B Limousine auslieferte. Das Fahrzeug war zweitürig, orange und konnte ansonsten nicht viel. Mein Tretroller ist besser ausgestattet.
So fährt der Cousin lächelnd in unsere Einfahrt, steigt aus und verweist mit ausgebreiteten Armen auf das neue Schmuckstück.
Jetzt war mein Vater nie ein großer Redner – eher das Gegenteil. Wenn der am Tag im privaten Kontext 100 Worte verlor, hatte er einen geschwätzigen Tag und es wurde schon mal die Nummer von Dr. Ernest Blümel rausgesucht.
Jetzt steht er also vor dem Auto und kann so gar nicht in die Verkäuferbegeisterung einstimmen. Der Sohn probiert derweil alles aus (war schnell erledigt) und holt seinen Kumpel Dirk zur gemeinsamen Begutachtung und anschließendem Kick auf der Straße.
Die Szene ändert sich irgendwie nicht. Der Vater schaut und schweigt. Jetzt müsst Ihr wissen, dass mein Vater die Initialen HJ hatte und damals war es absolut unüblich, diese oder das Geburtsdatum auf das Nummernschild zu bringen.
Der Cousin meines Vaters hatte das gemacht, und so prangte ein gepflegtes LÜN HJ 5 an dem Fahrzeug und ich sag wahrscheinlich noch sowas wie „kuck ma‘ Papa – deine Anfangsbuchstaben“.
Wenn mein Vater sich auf etwas was einbildete (er war Jahrgang 1933), dass er niemals einer Jugendorganisation des NS Staates angehörte.
In unserem Tennisclub war ein Bäckermeister, der meinen Vater von Kindheit an kannte und erzählte, dass Vater und seine Kumpel sich in der Kolonie bevorzugt mit Pimpfen stritten. Wenn die dann drollig wurden, setzte es was und zu Hause gab es einen Schulterklopfer.
Warum erzähl ich das? Jedenfalls steht der Alte in der Einfahrt und raunzt seinen Cousin an, dass er bitte dieses Auto wieder mitnimmt und ummeldet. Vorher würde er kein Geld sehen und er nicht in dieses Auto einsteigen. Das Argument verfing, und der abendliche Ausflug nach Dortmund musste per Straßenbahn stattfinden. In Brambauer in die 1 und Kampstraße (überirdisch) umsteigen.
An diesem Abend sollte das erste Fußballspiel stattfinden, dass ich von A-Z mitbekam und sich auch mit seinen atmosphärischen Elementen in mein Gedächtnis meißelte. Dabei war es völlig egal, wer da auflief. Das Drumherum fing mich ein in einer Zeit, in der der Besuch eines Wellenbades schon ein Höhepunkt war und die Events rar gesät waren.
Düsseldorf war zu Gast. Es war ein Freitagabendspiel. Das konnten wir eigentlich immer gut. Wir saßen mittig und oberhalb der Trainerbänke. Ließ man das Auge nach links schweifen, bot sich ein einmaliger Anblick. Im Block 13 klatschten die Leute über den Köpfen, und die Luft zitterte. Es waren menschliche Stimmen in einer Lautstärke zu hören, die man nicht für möglich hielt. Schön war, dass man eben nur den Block 13 hörte und nicht dieses vermaledeite Krawallentertainment heutiger Tage.
Ich habe mal nachgeschlagen, welche Helden an diesem Abend unsere Farben trugen, und sie waren alle dabei: Bertram, Huber, Vöge, Lippens, Kostedde, Segler und Hey Manni Manni, Manni, Manni, Manni Burgsmüller. Letzterer war und ist mein ewiger Fußballgott neben Gerd Müller.
Am Rande: Ich war mal Zeuge eines Trainings der Borussia, die damals morgens bei der Stadt anrufen musste, um zu wissen, wo sie trainieren darf. Diesmal war es im Fredenbaum Park und Manni röhrte durch die Gegend, dass die Heide krachte. Der machte im Training jedem klar, wer in die Ecken pieseln darf und wer nicht. Nix Edelfuss.
Egal – das Spiel lief nicht gut für uns. Eine Erinnerung bleibt. Irgendwann stand ein paar Meter von uns entfernt der Düsseldorfer Reiner Geye zur Einwechslung bereit. Das vergess ich nie, weil es mir schier schleierhaft war, wie ein Mensch solche Oberschenkel haben kann (ich schrieb schon mal darüber). Wir verloren und mir blieb trotzdem ein wegweisendes Erlebnis. Flutlicht, Block 13, Menschen, die an der Westfalenhalle vorbei Richtung Stadion strömen usw. Da wollte ich von da an immer hin. BTW: Wenn man sich die Aufstellung der Düsseldorfer reinzieht, weiß man, warum das nicht klappen konnte:
http://www.fussballdaten.de/bundesliga/1977/13/dortmund-duesseldorf/
So fuhren wir nach Hause. Mein Vater bekam ein neues Nummernschild und kaufte nie wieder ein Auto bei seinem Cousin.
Gestern war auch wieder ein Freitagabendspiel. Die Flutlichter wiesen den Weg und Zehntausende strömten in ein Fußballstadion – nur in einer anderen Stadt. Wenn sich etwas seit 1976 nicht geändert hat, dann ist es dieses Gefühl für die Atmosphäre. Irgendwann laufen gelbgewandetete Männer auf den Platz und deine Kehle schnürt sich zu. Ein paar Dortmunder waren auch da und schrien: „Aufstehn, Aufstehn“! Anyway – der Mob ist gut drauf. Stöckel ich die Treppe rauf oder runter, einer hilft immer – darauf ist Verlass. Irgendwann hatten meine Kinder und ich die richtigen Plätze ohne Aufstehzwang gefunden.
Beim Warmmachen wurde einem Recken der gebührende Empfang bereitet. Dede is back on the pitch. Götze machte sich mit den anderen Reservisten warm, Owo fehlte ganz und so präsentierte sich eine zwangsläufige Aufstellung. Diese wurde zu Spielbeginn von einer schönen Choreo auf der Südtribüne begrüßt. Die Dortmunder um uns herum standen auf und applaudierten angesichts dieser Liebeserklärung der Kölner Fans. Das sieht man nicht so oft und es zeugt von einem stillen Einverständnis aller Fußballfans.
Zum Spiel:
Ich möchte dem Kartengott folgen. In den ersten 30 Minuten war das ein ordentliches Fußballspiel mit halbwegs offenem Visier. Die Kölner hatten ein Heimspiel und so traten sie auch auf. Poldi war überall, lief um sein Leben und den Dortmunder Defensivkräften weg. Fast hätte er da angefangen, wo er in Kasachstan aufhörte. Sein Rechtsschuss traf aber nur die Latte. Jetzt fiel den Dortmundern ein, dass man den Spuk auch im Mittelfeld unterbinden kann, und sie entfalteten ihr bekanntes Spiel, dass in der Eröffnung häufig über die Flügel aufgezogen wurde.
Kuba hatte Platz und setzte sich wiederholt durch, um auf einen Lucas in Wolfsburgform zu spielen, der wirklich alles versemmelte, was ihm auf den Schuh oder Kopf kam – grauenhaft. Oft waren es die Situationen, wo man den letzten Ball einfach persönlich dem richtigen Spieler zuspielen möchte. Der Ball kam nicht an, und so ging man in Halbzeit. Auf der Tribüne war alles tacko und der Auswärtssieg geritzt. So nicht, denn genau mit dieser Einstellung kam der BVB aus der Kabine und schaute sich das Kölner Treiben in aller Seelenruhe an.
Die waren verwundert. Sie wurden im Mittelfeld nicht mehr in Empfang genommen und spielten sich ungestört bis zum 16er durch. Poldi lief und rotzte weiter in alle Richtungen. Nach einem Pfiff des Schiris dribbelte er Weidenfeller aus, um das Spiel vielleicht zu verzögern, keine Ahnung. Immerhin lag man 0:1 hinten. Dortmund offerierten sich Konterchancen, die einfach schlampig verdaddelt wurden. Schmelzer bekam zwar kaum Bälle aber er war der einzige, der irgendwie noch die Kugel in die Zone des Glücks spielen wollte.
So hätten sie noch Stunden weiter gespielt. Sahin vernaschte am rechten Flügel aufs Schlimmste zwei Kölner und konnte sogar einen vielversprechenden Angriff einleiten, der, natürlich, eher unglücklich abgeschlossen wurde. Die Kölner wechselten alles ein, was nach Stürmer aussah. Da flog ein hoher Ball in den Strafraum, und Hummels machte den Subotic. So einen Ball kann man nach vorn köpfen, muss man aber nicht. Vor allen Dingen dann nicht, wenn er genau auf den linken Fuß des Podolski fällt. Wenn der zwischen sich und Torwart nur 18 Meter hat, weiß man, was passiert. Weidenfeller war chancenlos. Er hatte die Mannschaft bis dahin im Spiel gehalten und mehrere Bälle neutralisiert, die auch mal reingehen können. Jetzt passierte etwas, was sich immer rächt. Podolski legt sich mit der halben Dortmunder Mannschaft an und macht mehr als eindeutige Gesten, die mit arrogant nur unzureichend beschrieben sind. Wir schreiben die 82. Minute.
Plötzlich kommen die Dortmunder Fans. So kann das einfach nicht laufen und schon gar nicht in Köln. Dachten sich auch die Dortmunder Spieler und legten die bisherige zweite Halbzeit ad acta. Die wollten gewinnen und schauten nicht zur Uhr. Die Kölner Defensive brannte lichterloh und sollten sie ihrerseits den Sieg angestrebt haben, war davon aber auch wirklich nichts zu sehen.
In den Kritiken steht, dass Götze zu kurz auf dem Platz war, um ihm eine Note zu geben. Bitte? Der Bursche kommt auf den Platz und ist nicht bremsbar. Unmittelbar vor dem Siegtreffer legt er rechts außen eine Pirouette hin und bringt den Ball nach innen, dass es einem in der Herzspitze juckt.
Irgendwie wird der Ball ins Tor gestolpert und Poldi bekommt die verdiente Riposte. Das war unser Nuri und nicht der Spieler, der in Berlin von seinem Trainer qua Anweisung neutralisiert wurde.
Meine Tochter trug Trauer, mein Sohn feierte – der Vater auch und am Ende bleibt nur zu sagen, dass der BVB mittlerweile Angst macht. Wer so umschalten und das Tempo erhöhen kann, kann wirklich was. Die letzten 5 Minuten hätten in Europa nicht viele Mannschaften überstanden. Dar war wieder dieses Schalkegefühl. Da stehen Gegner auf dem Platz, aber die ignorieren wir einfach. Es war einfach zu schnell und natürlich darf man anerkennen, dass auch ein wenig Glück dabei war. Klopp hat Recht: Die Gier war zu spüren aber eben nur 10 Minuten. Was soll er machen? Ein richtige Spitzenmannschaft zieht diesem Gegner in den ersten 45 Minuten das Fell über die Ohren, aber man muss sich noch steigern können.
Am Ende bleibt wieder dieses Fußballgefühl. Flutlicht, Menschen die ins Stadion strömen und die Luft, die über den Köpfen der Fans zu zittern scheint und der Gedanke an den seligen Reiner Geye mit den Godzilla Oberschenkeln. Es bleibt aber auch ein 1:2 mit anderen Vorzeichen und eine Mannschaft, die irgendwie die Gesetze des Fußballs außer Kraft setzt, weil sie nicht Kategorien von Spielständen oder Restspielzeiten zu denken scheint.
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